Texte zur Kunst


Die Welt als Spiegelung

The faster you drive the less you can feel
And the lights on the road are stranger than real
Where there is nothing to lose there is nothing to win
In a night without day on a road without end...
Chris Isaak


Anne Katrin Schreiner ist so von Leben fasziniert, dass sie, wie sie einmal feststellte, sich auch in ihrer Kunst von den täglich auf sie einströmenden Eindrücken inspirieren lässt, ja, dass sie diesen Strom der Erlebnisse und Wahrnehmungen als Ideenreservoir benutzt. Schreiner filtert ihre Motive aus den unzähligen visuellen Eindrücken, deren Reize permanent um unsere Aufmerksamkeit buhlen, und uns auffordern, dies oder jenes zu tun oder zu sein: die Reklameschilder, die Straßen der Großstadt, die Geschwindigkeit des Verkehrs, Schaufenster, Lichter, den Jahrmarkt, die Medien, aber auch scheinbar belanglose Gebrauchsgegenstände wie Frühstücksbrettchen, Schulbuchtafeln oder Fußbodenbeläge.

Als wären diese Eindrücke ein riesenhaftes Puzzle, oder ein überdimensionales kompliziertes Ornament, in dem sich die Bildteile ständig verändern, sich metamorphotisch verwandeln und stets neue Muster bilden, so benutzt Schreiner diese Motive. Aus den bildgewordenen Verführungen dieser (Schein-)Welten greift sie einzelne Puzzleteile heraus und erfindet neue Kombinationen, die ebenfalls einen ornamental anmutenden Charakter annehmen.
Man könnte auch sagen, in einer Art Formatierungsprozess verarbeitet sie Sinnesdaten und persönliche Eindrücke, die sie qua Material oder als Fotografie ins Atelier holt, um sie zu inneren Bildern in Beziehung zu setzen, Vorstellungen von "Sehnsucht, Welt vergessen, Kindheit, Träumen, Wünschen, Idealen" (Schreiner).

In diesem Prozess der Verarbeitung bleibt der Verführungscharakter erhalten und das In-Sich-Bewegte und Sich-Verändernde. Aber indem die Künstlerin "Puzzleteile" aus den unterschiedlichen Lebenswelten isoliert und neu kombiniert, entsteht ein Verfremdungseffekt, der letztlich zur Auflösung nicht nur der Zusammenhänge, sondern der Motive führt: die Piktogramme der Tatoos etwa gehen über in Wolken reiner Malerei, die Fotografien des Jahrmarkts verlieren ihren figurativen Charakter und lösen sich weitgehend auf in abstrakte dynamische Farbstrukturen.

Vor allem in den neueren Arbeiten, die den aktuellen Umgang mit "Low Culture" zu "Cross Culture" stilisieren, die Piktogramme von Tatoos benutzen, und den großformatigen Jahrmarktfotografien, findet sich eine komplexe medienreflexive Dimension. Sie adaptieren Low Culture, usurpieren den Verführungscharakter unserer Waren- und Konsumwelt, und konfrontieren und verbinden sie mit High Culture, mit den Zitaten der "reinen Malerei", den Taches (Flecken) oder dem Gestus der Aktionsmalerei.

Der hier aufgezeigten inhaltlichen Doppelbödigkeit ihrer Arbeiten entspricht der Umgang der Künstlerin mit bestimmten technischen Verfahren und Materialien, so der Collage, die hier häufig von Verdoppelungen, Spiegelungen und Achsensymmetrien der Bildzitate bestimmt ist, und dem Einsatz realer Spiegel oder reflektierender Folien, die als Malgrund verwendet werden.

Ein metallischer Träger reflektiert das durch die halbtransparenten Farbschichten eindringende Licht ebenfalls in der Art eines Spiegels und teilt sich der Farbwirkung intensivierend mit. Schreiner verwendet deshalb häufig auf den reflektierenden Untergründen neben deckenden Lacken halbtransparente Farben und Lasuren, die sie durch verschiedene Grade der Verdünnung in ihrer Lichtdurchlässigkeit beeinflussen kann. So entwickelt sie subtile Farberscheinungen und ebenso perspektivische Wirkungen, ähnlich den alten Meistern des 17. und 18. Jahrhunderts, die ebenfalls mit einem lasierenden Farbauftrag vorgingen, um die Farbnuancierung zu verfeinern, und vor allem die Farbigkeit und Konsistenz des Inkarnats vorzutäuschen. - Auch Schreiner spricht übrigens von der hautähnlichen sinnlich-taktilen Anmutung ihrer Farben auf den Spiegeln der Tatoo-Bilder. - In Schreiners Arbeiten stehen sich offene, spiegelnde, transparente und opake Partien gegenüber, sie instrumentieren die Formtransformationen, unterstützen den Charakter des Illusionären.

Es ist dieses Hin und Her zwischen Offen und Geschlossen, zwischen Figurativen bzw. Ornamentalen und dem Abstrakten, zwischen Dargestelltem und Reflektiertem, zwischen Realität und Illusion, das wie eine Inszenierung des Uneindeutigen erscheint. So erklärt sich auch der unterschwellig filmische Charakter der Werke, der sich in Motivüberblendungen und den Zeit und Geschwindigkeit darstellenden "Breitleinwand"-Fotografien offenbart. Ihre Berührung mit der (Medien-)Welt zeugt von dem Versuch, der Kunst die Möglichkeit zurückzugeben, Zustimmung zur Welt zu artikulieren, und zwar in einer reflektierten Weise.

Ist ein Film ein Spiegel der Welt? Oder nur der Innenwelt des Regisseurs? Die Antwort liegt auf der Hand: er ist eine Überblendung beider Welten, er ist ein Kunstprodukt, der Anteile des real Gelebten in sich begreift.
In diesem Sinne sind auch die Werke von Anne Katrin Schreiner zu verstehen: sie transformieren die Alltagsmotive, machen sie im wahrsten Sinne des Wortes zu Spiegeln, in denen die Welt reflektiert wird in des Wortes doppelter Bedeutung.


Dr. Lida von Mengden
Fernweh

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Fernweh - das ist eine diffuse Sehnsucht nach Weite, nach Veränderung, nach neuen Eindrücken und nach anderen Gefühlen als in der Heimat. Eine Sehnsucht, die sich auf einen konkreten Ort beziehen kann – sei es das Dorf in Südtirol, das Ferienhaus in Andalusien oder die maledivische Insel. Mit einem konkreten Ziel vor Augen wird Fernweh zu einem Heimweh in die Ferne. Dann gibt es eine Sehnsucht, die sich eher unspezifisch auf Naturgegebenheiten und Erlebnisse bezieht – die herkömmliche Variante heißt hier "Sonne, Strand und Meer", die abenteuerliche Variante: Klettern auf einem vereisten Wasserfall oder Motorradfahren in der Wüste, Regenwaldtour oder Andentrip.
Fernweh ist Grund fürs Reisen. Allen Begründungen für eine Reise voran gestellt. Begründungen, die sich abgesehen von kaufmännischen Aspekten wie sie bei Sindbad, dem Seefahrer verdichtet wurden, und dem Entdeckergeist, der bei dem berühmtesten Reisenden der Antike, Odysseus genauso eine Rolle spielte wie bei Columbus, Begründungen, die sich über Jahrhunderte hinweg auf die folgenden Punkte stützten und - ergänzt durch den Aspekt der Abwechslung und Unterhaltung - immer noch stützen: Man machte eine Reise als Pilger zu religiös bedeutsamen Orten, aus Bildungsbedürfnissen wie sie verstärkt mit dem Bürgertum aufkamen und zur Erholung und aus Sorge um die Gesundheit; respektive Badekuraufenthalte wie sie hier in Wiesbaden auch zu den Hochzeiten dieses Hotels Anfang des 20. Jahrhunderts gängig waren.
Eine Epoche, auf die Anne Katrin Schreiner in ihren Arbeiten Bezug nimmt. Die Frankfurter Künstlerin hat das Fernweh der damaligen Zeit aufgegriffen. Ein Fernweh, das man versuchte, auch in der Heimat zu vergegenständlichen – durch botanische Gärten mit exotischen Pflanzen, durch Treibhäuser mit Palmen und Kakteen, durch Aquarien und durch Zoos mit Tieren aus fernen Ländern. Dieses Bedürfnis nach exotischen Welten, künstlich zuhause konstruiert prägt als Thema die hier gezeigten Arbeiten.
Fotografien aus dem Frankfurter Palmengarten und Zoo sind das Ausgangsmaterial ihrer Bilder. Exotische Blüten- und Pflanzenmotive hat sie kombiniert mit leeren, tristen Tiergehegen. Organische Pflanzenmotive, Kennzeichen des Jugendstils, damals als Ornament und Dekoration, prägen ihre Malereien auf Spiegel, der andere Schwerpunkt ihrer für diesen Raum entstandenen Reihe mit dem Titel "Fernweh". Anne Katrin Schreiner geht von etwas Bestimmten aus und verfremdet es dann. Der Inhalt ist von Beginn an gegenwärtig, es folgt eine nachträgliche Abstrahierung. Den Untergrund bilden Spiegel – und diese verweisen in ihrer Beschaffenheit auf eine Welt des Scheins. Auf eine künstliche Welt, wie sie im Zoo und Palmenhaus entsteht und wie sie als konkretisierte Sehnsucht nach Exotik für einen der unzähligen Aspekte des Fernwehs steht.
Fernweh findet zunächst in Gefühlen und Gedanken statt. Damals, als die Menschen sesshaft wurden, entstand dieses Pendant zum Heimweh. Beides, Fernweh und Heimweh, drückt in gewisser Weise Schmerz aus, obwohl es positive Bezüge hat. Hier das Sehnen nach der Ferne, nach Neuem, Unbekannten, nach dem Paradies oder den irdischen Resten davon. Dort das Sehnen nach Heimat, nach ganz bestimmten Menschen, nach einem ganz bestimmten Ort.
Fernweh also ein Bündel von Gefühlen, komprimiert in einer Sehnsucht, die uns als kleine Unruhe plötzlich mitten im Alltag überfallen kann. Vielleicht aus Langeweile und aus Unzufriedenheit mit der Situation, vielleicht in Tagträumen und Vorstellungen, wie das Leben doch sein könnte. Fernweh stand immer schon für die Suche nach einem Leben außerhalb der Zwänge von Überlebenskampf und Arbeit. Heute lässt sich Fernweh als ein Gefühl beschreiben, das aufkommt, wenn der Alltag zu alltäglich, die Routine zu langweilig wird, wenn die kleinen Stressmomente sich verknoten und hektischer Entwicklungs-Stillstand eintritt. In Gedanken können wir auf einen Teppich steigen und davon fliegen. So wie bei der Wandarbeit von Peter Schreiner - ein Mann auf einem Teppich reist in andere Länder, schwebend und leicht, wohin die Reise geht, ist jetzt nicht wichtig. Momente des Aufbruchs, des Ausbruchs, der Lust auf Veränderung scheinen mir entscheidend. Auch die Yogafrau macht sich auf in eine andere Welt, eine transzendente, eine Wunschwelt. Beide Arbeiten stehen für die ursprüngliche Form des Fernwehs, ein unspezifisches Sehnen in eine Ferne, fernab der alltäglichen Wirklichkeit.
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Annette Kanis













„im Wunsch nach mehr“
Realitätsferne und Zeitlosigkeit im Glücksrausch, wie Dostojewski sie in den Gefühlen seines Spielers beschreibt, kennzeichnen auch die Erlebniswelt des Jahrmarktes, die Anne Katrin Schreiner in ihrer Serie „undercover“ thematisiert. 
In den farbintensiven Bildern verschmelzen Photographie, Malerei und Zeichnung miteinander; es schimmert der nächtliche Rummelplatz mit seinen Fahrgeschäften unter transparenten Farbschichten durch. Lichtreflexe, Unschärfen und die leuchtenden Farben vermitteln Dynamik, lautstarkes Menschengetümmel und Ausgelassenheit. Es ist eine exzentrische Welt jenseits von alltäglichen Normen. 

Im Gegensatz zum Spielkasino, das vornehmlich vereinzelte Menschen Rausch empfinden läßt, ist der Jahrmarkt ein soziales Ereignis. Dort findet ein überdrehtes, rauschhaftes „Außer-Sich-Sein“ unter Freunden, mit der Familie statt. Hier herrscht ein Rausch in der Masse, ein Aufgehen in der Masse. 
Geschwindigkeitsrausch, Konsumrausch, Tumult von Geräuschen und Lichtern manipulieren Körper und Sinne. 
Es ist ein paradiesischer Zustand für die Dauer einer Karussellfahrt, ein ekstatisches Erleben in der Gemeinschaft fern der Ordnungen von Raum und Zeit, fern der Realität.

Vielleicht ähnlich mystischen Erfahrungen ist dieser Glücksrausch ein Erleben von Transzendenz; allerdings einer profanen Transzendenz, die einzig dem Selbstzweck dient. 
Anne Katrin Schreiner führt in den „undercover“ Arbeiten  diese profane Sensation der Sinne vor. 

Das Auge des Betrachters kann gerade noch das photographisch festgehaltene wilde Treiben des Jahrmarktes erkennen, worüber sich Schichten von Malerei legen; intensive Farbtöne, die für euphorische Lautstärke, Gelächter, Gekreische, Musik und Töne aus allen Richtungen stehen können. Die Farbschichten sind dünn, lasierend aufgetragen und z.T. durch Abschleifen nochmals verdünnt und aufgerauht, so dass sie sich wie Schleier über die schon silbrig-unscharfe Photographie legen und versuchen mit ihr eins zu werden. 
Eine Verschmelzung findet im Bild statt, analog zum Individium auf dem Jahrmarkt, der im Glücksrausch mit seiner Umwelt eins wird und im ekstatischen Gefühl aufgeht. Dementsprechend sind in den Bildern auch keine einzelnen Menschen auszumachen. 
Aber etwas anderes, sehr konkretes tritt in Erscheinung, das auch in den Arbeiten zum Spielkasino auftaucht: klar konturierte Zeichnungen, die hier Tattoos ähneln. 

Tätowierungen sind modisch und populär geworden und passen gut zum Volksvergnügen des Rummelplatzes. Sie sind schrecklich und schön, waren einmal jenseits von bürgerlichen Normen, sind aber heute durchaus nicht mehr tabuisiert. 
Wie Tattoos auf der Haut legen sich die Zeichnungen  hier auch auf die Oberfläche der Bilder, grenzen sich klar ab und doch scheint das Geschehen des Bildes durch sie hindurch.
Wie auch in den „Nachtschwärmer“ Arbeiten erscheinen mir die Zeichnungen allerdings beweglich und wesenhaft, einige wie Geister des Rummels, Geister des Glücks.                                

Der Ausstellungstitel „im Wunsch nach mehr“ bezeichnet einen prozesshaften Seinszustand, einen rauschhaften Zustand. 
Der Wunsch nach intensiven Gefühlen, Gefühlen des Glücks, des weltlichen Enthobenseins führt Menschen in Spielkasinos und auf Rummelplätze. 
Die ausgestellten Arbeiten führen uns an diese künstlichen Orte fern unseres wohlstrukturierten, rationalen Alltags und sie  suchen etwas von dem seltenen, ersehnten Glücksrausch zu vermitteln. 

2007, Katharina Siegmann