Dr. Anett Göthe 

Textausschnitt zur Ausstellung „Fusion als Muse“, 2018


„… Viele Eindrücke und Gefühle versucht Anne Katrin Schreiner in ihren Werken zu transportieren. Dabei spielt für sie die Natur mit ihrer organischen Formenvielfalt sches in ihren Arbeiten und andererseits sind es ganz persönliche Erlebnisse und Begebenheiten. Sicherlich hat auch die Sichtweise auf das Motiv des Hirsches als König des Waldes bei gleichzeitiger Popularisierung des Motivs als Hirsch im Wohnzimmer zur Auseinandersetzung in ihren Arbeiten beigetragen.

Doch lassen Sie mich hinsichtlich des Themas des Hirsches einen kurzen Blick in die Kunstgeschichte werfen. Das Motiv des röhrenden Hirsches stammt aus der akademischen Malerei der Spätromantik, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so richtig in Mode kam; vor allem als kleinbürgerlicher Zimmerschmuck. Wie kann man sich die einstige Beliebtheit dieses Bildmotivs erklären? Auf den ersten Blick zeigt es etwas ganz Natürliches: das ungebundene Leben der Hirsche in der freien Landschaft. Es war ein einfaches Gegenbild zum Leben in den Großstädten, zur alltäglichen Arbeit in den Kontoren und Fabriken am Ende des 19. Jahrhunderts. Und noch ein Aspekt war wichtig: Die röhrenden Hirsche wurden zu Lieblingsbildern, weil es sich um Liebesbilder handelte. Denn die Hirsche röhren nur im Herbst, in der Paarungszeit. Dazu gibt es noch weiterführenden Theorien von Siegmund Freud, die ich an dieser Stelle allerdings nicht vertiefen möchte.

Interessant ist auch, dass der französische Maler Gustave Courbet, der als Hauptvertreter des Realismus gilt, ab 1858 etwa für ein Jahr in Frankfurt weilte und während dieser Zeit von Hirschen und der Jagd so fasziniert war, dass er oft zur Jagd in den Taunus und in den Spessart eingeladen wurde. Insgesamt 130 Werke mit weidmännischen Motiven malte er. Als Tier-Modell dienten ihm präparierte Exemplare von Franz Leven, dem Gründer und Direktor des 1858 eingerichteten Zoologischen Gartens. Auch zu Wildhändlern in Frankfurt pflegte Courbet guten Kontakt, die ihn mit erlegtem Wild belieferten. Allerdings musste sich Courbet in diesem Fall mit dem Malen sehr beeilen, da die toten Tiere danach noch in den Verkauf gingen.

Am Thema des Hirsches in Anne Katrins Arbeiten wird klar, sie sucht mit ihren Bildelementen einerseits die Brüche und andererseits die Verwandtschaften in den Dingen. Einerseits ist es die Ambivalenz der Darstellungen des Hirsches in der Kunst und anderseits ist es die ornamentale Struktur, die sich in Form seines schwungvoll ausladenden Geweihs durch den Bildraum zieht und die einzelnen Bildelemente miteinander verbindet…“




Katharina Siegmann

Textausschnitt zur Ausstellung „im Wunsch nach mehr“, 2007


Realitätsferne und Zeitlosigkeit im Glücksrausch, wie Dostojewski sie in den Gefühlen seines Spielers beschreibt, kennzeichnen auch die Erlebniswelt des Jahrmarktes, die Anne Katrin Schreiner in ihrer Serie „undercover“ thematisiert.

In den farbintensiven Bildern verschmelzen Photographie, Malerei und Zeichnung miteinander; es schimmert der nächtliche Rummelplatz mit seinen Fahrgeschäften unter transparenten Farbschichten durch. Lichtreflexe, Unschärfen und die leuchtenden Farben vermitteln Dynamik, lautstarkes Menschengetümmel und Ausgelassenheit. Es ist eine exzentrische Welt jenseits von alltäglichen Normen.

Im Gegensatz zum Spielkasino, das vornehmlich vereinzelte Menschen Rausch empfinden läßt, ist der Jahrmarkt ein soziales Ereignis. Dort findet ein überdrehtes, rauschhaftes „Außer-Sich-Sein“ unter Freunden, mit der Familie statt. Hier herrscht ein Rausch in der Masse, ein Aufgehen in der Masse.

Geschwindigkeitsrausch, Konsumrausch, Tumult von Geräuschen und Lichtern manipulieren Kör- per und Sinne.

Es ist ein paradiesischer Zustand für die Dauer einer Karussellfahrt, ein ekstatisches Erleben in der Gemeinschaft fern der Ordnungen von Raum und Zeit, fern der Realität.

Vielleicht ähnlich mystischen Erfahrungen ist dieser Glücksrausch ein Erleben von Transzendenz; allerdings einer profanen Transzendenz, die einzig dem Selbstzweck dient.

Anne Katrin Schreiner führt in den „undercover“ Arbeiten diese profane Sensation der Sinne vor.

Das Auge des Betrachters kann gerade noch das photographisch festgehaltene wilde Treiben

des Jahrmarktes erkennen, worüber sich Schichten von Malerei legen; intensive Farbtöne, die für euphorische Lautstärke, Gelächter, Gekreische, Musik und Töne aus allen Richtungen stehen können. Die Farbschichten sind dünn, lasierend aufgetragen und z.T. durch Abschleifen nochmals verdünnt und aufgerauht, so dass sie sich wie Schleier über die schon silbrig-unscharfe Photographie legen und versuchen mit ihr eins zu werden.

Eine Verschmelzung findet im Bild statt, analog zum Individium auf dem Jahrmarkt, der im Glücksrausch mit seiner Umwelt eins wird und im ekstatischen Gefühl aufgeht. Dementsprechend sind in den Bildern auch keine einzelnen Menschen auszumachen.

Aber etwas anderes, sehr konkretes tritt in Erscheinung, das auch in den Arbeiten zum Spielkasino auftaucht: klar konturierte Zeichnungen, die hier Tattoos ähneln.

Tätowierungen sind modisch und populär geworden und passen gut zum Volksvergnügen des Rummelplatzes. Sie sind schrecklich und schön, waren einmal jenseits von bürgerlichen Normen, sind aber heute durchaus nicht mehr tabuisiert.

Wie Tattoos auf der Haut legen sich die Zeichnungen hier auch auf die Oberfläche der Bilder, grenzen sich klar ab und doch scheint das Geschehen des Bildes durch sie hindurch.

Wie auch in den „Nachtschwärmer“ Arbeiten erscheinen mir die Zeichnungen allerdings beweglich und wesenhaft, einige wie Geister des Rummels, Geister des Glücks.

Der Ausstellungstitel „im Wunsch nach mehr“ bezeichnet einen prozesshaften Seinszustand, einen rauschhaften Zustand.

Der Wunsch nach intensiven Gefühlen, Gefühlen des Glücks, des weltlichen Enthobenseins führt Menschen in Spielkasinos und auf Rummelplätze.

Die ausgestellten Arbeiten führen uns an diese künstlichen Orte fern unseres wohlstrukturierten, rationalen Alltags und sie suchen etwas von dem seltenen, ersehnten Glücksrausch zu vermitteln.




Roberto Annecchini

Textausschnitt aus „Lebendige Synergien“, 2006


„... Zwischen introspektiver Hightech-Kultur und expressivem Neo-Pop, löst sich der koloristische Ton in eine quasi techno-impressionistische ‚Homage an Manet‘ auf. In einem Prozess der sublimen Auflösung zeichnet sich ein innerer Raum als ‚eine Landschaft und ein Seelenbereich‘ ab.

Dieses Gestaltungsprozedere der Veränderung als besonders spezifischer Handlungsakt ist der Modus und die wesentliche Eigenheit der Arbeit von Anne Katrin Schreiner. Sie präsentiert sich im gegenwärtigen Kontext als „aktive Funktion“; der Mechanismus der Abstimmung zwischen dem einem zum anderen kennzeichnet die Künstlerin, die ihre Arbeit in der zeitgenössischen visuellen Kunst als ein inneres spezifisches Forschungsfeld vorstellt, dieses Privileg ist sowohl der Pragmatismus der Vorgehensweise, als auch die Intimität eines existenziellen und post-romantischen Hintergrundes ...“




giaNLUca pernAFelli

Pattern XA.K., 2006


“[...] vom Rande eines nicht existierenden Zentrums, geriet sie in jenes, welches sich als ein ausgearbeitetes und entscheidendes Bilderdepot darstellte. Sie kam zufällig an, aber mit der klaren Vorstellung sich zu verlieren, sich zu vergessen, imstande geradeso nicht nachahmbar zu sein. Nicht weil es notwendig gewesen wäre. Es war nur raffinierte und ungeordnete Neugierde. Sie blickte verstohlen um ihre Augen, bewegte nur wenige Schritte. Eine Frage der Abmessung von Entfernungen und Einstellungen und gleich zeigte dieser Brand unbekannte Phosphoressenzen auf der Suche nach beschwörenden Kreuzungen, Kontakten und Schlussfolgerungen. Sie versäumte es nicht mit imaginären Linien jene verknoteten Erfahrungen zu verbinden, ungefähr wie Konstellationen der Gestirne, überrascht sich die Realität als ein wunderbares Kaleidoskop von durchdachten Widerspiegelungen vorzustellen. Alle Elemente dort drinnen, schienen am spielerischen und ironischen Umkippen von Metern und Minuten, von Atomen und Pixeln, Verderben und Rettung, Körper und Gedanken beteiligt zu sein. So wenigstens konnte man es glauben und sehen. Hören? Nur mechanische Klänge, aber gestimmt durch zahlenmäßige Kombinationen, metallische Umschreibungen, elektrische Manipulationen. Vielleicht um die große geometrische Perfektion zu kompensieren, unerwartet beflügelte Worte, neidisch und großzügig sich haschend, sich wahrnehmend, durchqueren ihre Netzhaut und ihr Gehirn, um es mit Illusionen, Irrationalität und Aberglaube zu beschmutzen. Zwischen irritierenden Rauchschwaden von molekularen und emotionalen Kenntnissen, glänzen auch Oxymora ein bisschen vor altertümlicher und unerschöpflicher Zerätzung. Scheinbare Essenzen, ideologische Wahrheiten, fehlgeschlagene Erscheinungen. Nichts Ernstes, ein Nichts an dem man mit nichts anderem vorbeikommt, als mit eleganter und berechtigter Gleichgültigkeit. Sie hielt an, akzeptierte die Dinge nicht bis auf den Grund zu verstehen, auch wenn sie in deren bezaubernde und viel versprechende Komplexität eingetaucht war. Bis auf den Abgrund. Bis auf die Unreinheit des Endes. An diesem Punkt war es, an dem sie es liebte sich den Wogen der dichten Farben hinzugeben, die in ihrer Transparenz zu betrachten sind und unter diesen unbestimmten Anregungen öffnete sie das Herz der Ungeduld, die ewige Bewegung. Wellen und Strömungen, um mit Bedacht die Grenzen zwischen den Dingen und den Gefühlen zu verwischen. Vermutlich war dies das große Geheimnis, zwischen den Grenzen, Zonen der unmittelbaren Nähe, Überlagerungen; vermutlich versteckte sie sich zwischen weiblichen Spalten der Fruchtbarkeit, gesättigt mit einer für wenig Geld zu erwerbenden Zukunft. Sie lächelte, es war schön zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten hin und her zu schwingen, dabei die Leere zu durchqueren. Sie wiegte sich, die eigene Sachlichkeit neu zeichnend. Sie versuchte sich neu zu erschaffen, dem Zufall die eigenen Koordinaten überlassend. Arbeit, Sex, Heim, Rhythmen, Geld, Beziehungen. Sie überließ dem Zufall die letzte Entscheidung, die am Ende die zwischen Leben und Tod ist. Zwischen dem Glauben zu sein’ und dem Wunsch nie zu sein’. Auf einen Augenblick die Zeit der Erfahrungen komprimiert. Mit einfachen Gesten ihre Figur und ihre Präsenz neu zusammengefügt. Es gab kei- ne Schatten, es gab keine Gerüche noch gab es sonstige Götter. Und sie begann zu spielen, sich unschuldig wähnend, als sei es der erste Tag der Welt [...]”




Ulrich Meyer-Husmann

Textausschnitt zur Ausstellung „der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten“, 2004


„... Aus dem Verlust des Paradieses folgt als Konsequenz daraus entweder reuige Bescheidenheit oder im Sinne von Charles Baudelaire ein Gegenentwurf: ‚Les paradis artificiels‘ (1860), die Schaffung künstlicher Paradiese.

Baudelaire - der Untertitel Opium und Haschisch verrät das - bezieht die Schaffung künstlicher Paradiese ganz eindeutig auf Drogen. Anne Katrin Schreiner siedelt ihren Versuch woanders an:

Orte sind es, die vielleicht ein gesteigertes Lebensgefühl ausstrahlen bzw. suggerieren: Jahrmarkt, Varieté, Zirkus, auch die Welt der Pinups und Tattoos. Es sind Orte der Sehnsüchte, Wünsche, Träume, des Vergessens - aber auch von Schmerz und Verzweiflung.

Baudelaire distanziert sich zwar vom Drogenkonsum, gibt aber eine excellente Beschreibung der Wirkungen, wenn er von ‚gesteigerter Farbwahrnehmung‘ spricht und dem ‚Glücksgefühl des rauschhaften Zustandes‘, in dem ‚Schmerz und Idee der Zeit aufgehoben‘ scheinen.

Der Blick auf die Arbeiten von Anne Katrin Schreiner offenbart erstaunliche Entsprechnungen.“




Lida von Mengden

„Die Welt als Spiegelung“, 2003


„ ... Es ist dieses Hin und Her zwischen Offen und Geschlossen, zwischen Figurativen bzw. Ornamentalen und dem Abstrakten, zwischen Dargestelltem und Reflektiertem, zwischen Realität und Illusion, das wie eine Inszenierung des Uneindeutigen erscheint. So erklärt sich auch der unterschwellig filmische Charakter der Werke, der sich in Motivüberblendungen und den Zeit und Geschwindigkeit darstellenden „Breitleinwand“-Fotografien offenbart. Ihre Berührung mit der (Medien-) Welt zeugt von dem Versuch, der Kunst die Möglichkeit zurückzugeben, Zustimmung zur Welt zu artikulieren, und zwar in einer reflektierten Weise.

Ist ein Film ein Spiegel der Welt? Oder nur der Innenwelt des Regisseurs? Die Antwort liegt auf der Hand: er ist eine Überblendung beider Welten, er ist ein Kunstprodukt, der Anteile des real Gelebten in sich begreift.

In diesem Sinne sind auch die Werke von Anne Katrin Schreiner zu verstehen: sie transformieren die Alltagsmotive, machen sie im wahrsten Sinne des Wortes zu Spiegeln, in denen die Welt reflektiert wird in des Wortes doppelter Bedeutung.“